Der Grenzgänger

Reinhold Messner ist von Anfang an weitergegangen als die Anderen, hat Tabus gebrochen. Nicht umsonst gilt er als der berühmteste Abenteurer und Bergsteiger unserer Zeit. Er hat seine Grenzen immer wieder gesucht: Von seiner ersten Besteigung eines 3000ers als Fünfjähriger bis zur Durchquerung der Wüste Gobi mit 60 Jahren. Er bezwang als erster den Mount Everest ohne Sauerstoffmaske, bestieg alle vierzehn Achttausender, bezwang die Seven Summits. Später durchquerte er zu Fuß die größten Eis- und Sandwüsten der Erde. Mit dem LUDWIG sprach er über sein Leben am Limit, über Alter und warum er freiwillig in die Hölle ging.

 

Ein Leben als Grenzgänger – sowas beschließt man ja nicht einfach … Wie kam es dazu?

 

Ich bin in einer Welt aufgewachsen, die sehr eng war. In den Dolomiten, in einem Bergdorf. Und ich bin schon als Kind auf die Berge gestiegen, zusammen mit den Eltern. Mit fünf Jahren habe ich den ersten 3000er bestiegen. Mit 12 Jahren war ich ein selbstständiger Kletterer, zusammen mit den Brüdern, und mit 18 war ich ein besessener Felskletterer. Da habe ich angefangen zu merken, was das Steigen, das Leben am Limit ist … Mit 25 habe ich mich entschieden, meine Ausbildung als Bauingenieur fallen zu lassen und mich ganz dem Abenteuer zu widmen. Relativ schnell habe mir dann die nötigen Mittel erarbeitet, um selbst Expeditionen finanzieren und frei sein zu können.

 

Sie haben mal gesagt: „Ich gehe freiwillig in die Hölle“. Warum?

 

Weil das Herauskommen aus der Hölle das Stärkste ist, was man erleben kann. Man kommt heraus und sagt sich „Das Leben ist großartig“. Dann wird’s allerdings langsam wieder langweilig und dann muss man wieder in die Hölle. Eigentlich ist das ziemlich schizophren …

 

Die Möglichkeit zu Sterben - war das immer präsent oder haben Sie es verdrängt?

 

Ein wirklicher Grenzgang bedeutet eine Situationen, in der man etwas macht, von dem man nicht sicher weiß, ob es geht oder nicht. Es ging in meinem Leben immer nur um möglich oder unmöglich. Im Abenteuer geht es ja darum, dass die aktuelle Generation das, was die Generation vor ihr als unmöglich postuliert hat, möglich macht. Das ist das Spiel. Man macht sich natürlich auch nicht immer Freunde unter den Alten, denn sie müssen ja sagen, dass sie sich getäuscht haben.

 

Gibt es heute überhaupt noch irgendwelche unmöglichen Limits, die man überwinden kann?

 

Das ist wie in der Wissenschaft. Da kommen die Experten jetzt erst drauf, dass die Welt unendlich viel komplexer ist als wir uns das bisher vorgestellt haben. Das Problem der großen Bergsteiger heute – und die gibt es wie früher, noch bessere teilweise – ist es, das zu beschreiben, was sie tun. Für mich war das leicht, denn die Besteigung des Everest ohne Sauerstoff galt als unmöglich und ich habe es gemacht. Das ist leicht darzustellen, da brauche ich nicht viele Sprachbilder. Aber um der Masse zu erklären, welche Rekorde heute erreicht werden, braucht es auch eine künstlerische Fähigkeit, braucht es Sprachbilder in Vorträgen und Büchern. Und viele junge Leute heute sind sehr gute Kletterer und Abenteurer, aber sie haben kein Verständnis für Geschichten. Um ein erfolgreicher Grenzgänger zu sein, muss ich nicht nur in dem gut sein, was ich mache, ich muss das Erlebte auch für die Masse übersetzen können – das Storytelling ist mindestens so wichtig wie das Tun.

 

Die Zeit der großen Abenteuer ist vorbei. Brauchen Sie das heute nicht mehr in dem Maße wie früher?

 

Ich war nie abhängig davon. Ich war begeistert und habe versucht, meine Ideen Schritt für Schritt umzusetzen. Und als ich gemerkt habe, es würde mich umbringen, wenn ich weitermache in dieser Dimension, habe ich langsam zurückgeschraubt. Und ich habe dann als 65-Jähriger bei einer leichteren Route auf einen kleineren Berg das Gleiche erlebt wie vorher auf dem höchsten Berg über die schwierigste Route – weil ich ja ungeschickter und langsamer wurde. Und so habe ich es dann auch erzählt.

 

Viele wissen nicht, wann es genug ist, können nicht aufhören …

 

Ja, die fallen dann mit 70 irgendwo runter, was wirklich nicht mehr notwendig war. Ich habe da überhaupt kein Problem damit. Ich widme mich anderen Dingen, die spannend sind, Abenteuern, aber an meiner heutigen Leistungsgrenze. Und nicht mit dem Vorsatz, ich muss nochmal zeigen, dass ich der große Zampano bin.

 

Dann sind Sie auch keiner, der mit dem Älterwerden hadert?

 

Das Altern ist ein schwieriger Prozess, aber nicht, weil ich bestimmte Sachen nicht mehr kann, sondern weil ungeschickter werde, weil ich langsamer werde, weil ich weniger Energie habe als früher. Und ich lebe damit. Ich weiß nur, je älter man wird, umso schwieriger wird es am Ende. Wir Menschen sind nicht gemacht für 100. Dann wird man mit 90 dement und die Angehörigen haben zehn schwere Jahre. Das sind Probleme, die wir besprechen sollten und ich bin dabei, das zu besprechen. Für mich selber möchte ich, dass ich niemandem schwer zur Last falle. Ich bin auch bereit, freiwillig aus dem Leben zu scheiden mit Methoden, die man in der Schweiz darf, bei uns noch nicht. Selbstbestimmung muss auch am Ende des Lebens noch möglich sein.

 

Ein wichtiger Teil Ihres Lebenswerks sind Ihre Museen. Das sechste wurde heuer eröffnet. Ist es das Letzte?

 

Ja, es bleiben sechs Museen. Dieses Museumsprojekt ist das bei weitem erfolgreichste weltweit. Alle sechs funktionieren selbsttragend, sie werden mit keinem Cent subventioniert.
Ich will hier versuchen, mit musealen Mitteln zu erzählen, was eigentlich passiert, wenn Mensch und Berg sich begegnen.

 

Würden Sie rückblickend in Ihrem Leben irgendwas anders machen?

 

Man kann nichts verändern, man kann nur die Tatsachen erzählen. Und ich glaube, dass ich als Autor auch deswegen so erfolgreich bin, weil ich eben nichts beschönige im Rückblick oder bereue. Das bringt nichts. Wahrscheinlich würde ich ungefähr den gleichen Weg wieder gehen, aber ich bin überzeugt, dass es nicht im Rückblick ein gelungenes Leben gibt, sondern nur ein gelingendes, während man mit Begeisterung eine Sache macht – das ist nur im Hier und Jetzt möglich.

 

Haben Sie Ihre Haltung zum Leben auch Ihren Kindern weitergegeben?

 

Mein Weg ist für die Kinder der falsche, sie müssen ihren eigenen gehen, ich kann ihnen auch keine Ratschläge geben. Ich kann ihnen nur sagen, dass das selbstbestimmte Leben wichtig ist. Aber ich würde ihnen nie sagen, was richtig und was falsch ist.

 

Bild: Tony Federico